Die Bezeichnung „Outsider Art“ wurde
1972 vom englischen Kunsthistoriker Roger Cardinal als angelsächsisches
Equivalent für den von Jean Dubuffet verwendeten Begriff
„Art brut“ eingeführt. Outsider Art (Außenseiterkunst)
ist weder eine Kunstrichtung noch ein Stilbegriff. Sie ist
deshalb alles andere als eine homogene, in sich geschlossene
Einheit. Ihr wesentliches Kennzeichen ist, dass sie außerhalb
des etablierten Kunstbetriebs, jenseits der Kunstgeschichte–
und Tradition sowie unabhängig von Strömungen und
Moden der Kunst stattfindet.
Die Urheber dieser Kunst sind Menschen, die extremen seelischen
Belastungen ausgesetzt waren oder ungewöhnliche Erfahrungen
in ihrem Leben gemacht haben. Sie sind zum größten
Teil von der Gesellschaft ausgeschlossen, ausgegrenzt und
an den Rand gedrängt: Psychiatrie-Erfahrene, Menschen
mit intellektueller Behinderung, Grenzgänger, gesellschaftlich
unangepasste, randständige Menschen in selbst gewählter
oder ungewollter Isolation, Sonderlinge, Gefängnisinsassen
und Autodidakten mit künstlerischem Potential. Die Außenseiter
unterscheiden sich hinsichtlich ihres persönlichen Hintergrundes
und der sozialen Herkunft weit voneinander, leben zu verschiedenen
Zeiten und in verschiedenen Orten, verwenden unterschiedlicher
Materialien und Ausdrucksmittel. Eines verbindet sie jedoch
alle:
Sie schaffen ihre Kunst, geleitet von einem drängenden
Wunsch, gänzlich aus einer inneren Notwendigkeit, aus
einem tief empfundenen Gestaltungs- und Ausdrucksbedürfnis
heraus, ganz allein für sich, ohne Vorbilder und nicht
in erster Linie um der Anerkennung anderer willen, so zu sagen
mit dem Rücken zum Publikum.
Anders als die Berufskünstler, arbeiten sie, von einigen
wenigen Ausnahmen abgesehen, ohne jemals eine wirkliche künstlerische
Ausbildung genossen zu haben, abseits vom kommerziellen Kunstbetrieb
und frei von jeglichem Anpassungsdruck und unabhängig
von wechselnden Moden der Kunst. Die meisten von Ihnen sehen
ihre eigenen Arbeiten nicht als Kunstwerk und sich selbst
nicht als Künstler. Sie haben nicht die Absicht, Künstler
werden zu wollen, sie leben die Kunst. Sie bilden keine Gruppe,
gehören nicht zu einem Stil, oder einer Schule.
Ihre Kunst ist Ausdruck einer tief erlebten Innerlichkeit
und wird im Wesentlichen von unausgesprochenen Wünschen,
inneren Widersprüchen und Visionen vorangetrieben. In
ihrer Arbeit steckt schöpferische Energie, Fantasiegewalt
und eine Schaffenskraft, verbunden mit unverbrauchter Spontaneität.
Ihre Kunst ist nicht nach außen sondern nach innen ausgerichtet,
sozusagen eine Reise nach Innen.
Der wesentliche Aspekt ihrer Arbeiten ist, dass sie in der
Regel Kopfgeburten sind, die ihrer inneren Vorstellungswelt
entspringen. Ihren Bildern liegt meist keine Vorausplanung
zugrunde. Sie nehmen während des Malvorgangs allmählich
eine Gestalt an. Der Sinn des Werkes liegt für sie in
seiner Erschaffung selbst.
Ihre Werke haben eine ureigene Bildsprache, eine einzigartige,
eigenständige ästhetische Kategorie und zeugen von
einem hohen Potential an Ausdrucksvermögen sowie einer
rohen ungeschliffenen Ausstrahlung. Daher wundert es nicht,
dass ihre Bilder den Betrachter irritieren, verstören
und zugleich in ihren Bann schlagen.
Zu unterschiedlich ist die handwerkliche Beherrschung des
Mediums. Zu unterschiedlich sind deshalb auch ihre formalen
und inhaltlichen Qualitäten.
Manche Arbeiten mögen für den durch traditionelle
Kunst geschulten Blick von offenbarer Schlichtheit, gestalterisch
unprofessionell mit mangelnder ästhetischer Perfektion
und Harmonie, manche ungelenk ja kindhaft ausgeführt
sein. Dennoch oder vielleicht gerade darum, fehlt es ihnen
nicht an einer authentischen Darstellungsweise, Unbefangenheit
des Ausdrucks, Eindringlichkeit, Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit,
die gerade ihre Stärke, ihren Reiz und überhaupt
die Faszination ausmachen.
Trotz der Anerkennung, die der Außenseiterkunst seit
den achtziger Jahren in zunehmendem Masse entgegengebracht
wird und abgesehen von wenigen Ausnahmen, die den Einzug in
den Kunstbetrieb, in die Museen hielten und sogar Weltruhm
erlangten, wird das Schaffen von Außenseitern von der
Kunstwelt zwar mit zunehmendem Interesse verfolgt aber nicht
entsprechend genug gewürdigt. Es wäre zu wünschen,
dass den Schöpfern dieser Kunstwerke, die Anerkennung
als Künstler zuteil wird.
Turhan Demirel
Literatur: |
Outsider
Bilderwelten aus der Sammlung Demirel, BP-Verlag, 2006 |
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Bildwelten von Außenseitern, BoD, 2013 |
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